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Verfasst: Donnerstag 11. März 2004, 16:47
von sarah
Gottfried Benn - Blaue Stunde

1 Ich trete in die dunkelblaue Stunde -
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen - du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
Dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit vorgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde - nichts gehofft und nichts gelitten -
mit ihrer Schale später Rosen - du.

2 Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angeströmten Ahnengrund.

Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
todweiße Rosen Glied für Glied - Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundergroß.

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.

3 Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?

"Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt - wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau."

Verfasst: Donnerstag 11. März 2004, 16:45
von sarah
Gottfried Benn - Astern

Astern - schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du -
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,

Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

Verfasst: Donnerstag 11. März 2004, 16:44
von sarah
GOTTFRIED BENN
Schriftsteller, Arzt / 1886-1956



1886
2. Mai: Gottfried Benn wird in Mansfeld (Westprignitz) als Sohn eines lutherischen Pfarrers geboren.


1903
Benn beginnt sein Theologie- und Philosophiestudium in Marburg.


1905
Beginn des Medizinstudiums in Berlin.


1911
Er wird Unterarzt in einem Prenzlauer Infanterieregiment.


1912
Aus gesundheitlichen Gründen nimmt er seinen Abschied vom Militär und arbeitet als Pathologe und Serologe an Berliner Krankenhäusern.
Mit dem Gedichtband "Morgue" erregt Benn in avantgardistischen Kreisen großes Aufsehen, da er die herkömmliche Vorstellung von Lyrik radikal in Frage stellt. Die Provokation seiner Lyrik beruht vor allem auf der Darstellung der Banalität der menschlichen Existenz und ihres körperlichen Verfalls. Außerdem ist seine künstlerische Methode, sein artistischer Umgang mit Sprache neuartig und beeinflußt die expressionistische Lyrik.


1913
Die Gedichtsammlung "Söhne" erscheint mit einer Zueignung an die Dichterin Else Lasker-Schüler, mit der er zu dieser Zeit ein Liebesverhältnis hat.


1914-1917
Im Ersten Weltkrieg wird Benn Oberarzt im besetzten Brüssel, wo die sogenannten Rönne-Novellen entstehen.


1917
Benn läßt sich als Dermatologe und Venerologe in Berlin nieder.
Veröffentlichung der Prosasammlung "Gehirne" sowie der Gedichtsammlung "Fleisch", die in ihrer schroffen Menschenverachtung seine Reaktion auf die Greuel des Kriegs zeigt.


1922
Mit der Publikation der "Gesammelten Schriften" endet seine expressionistische Phase.


1927/28
Nach der Veröffentlichung der Bände "Gesammelte Gedichte" und "Gesammelte Prosa" wendet sich Benn der Essayistik zu, wobei er sich auf geschichtsphilosophische Zeitkritik und den Nihilismus konzentriert.


1931
Uraufführung des von Paul Hindemith vertonten Oratoriums "Das Unaufhörliche", das von der Kritik als zu nihilistisch abgelehnt wird.


1932
Wahl in die Preußische Akademie der Künste.
Die Auseinandersetzungen mit Egon Erwin Kisch um das Verhältnis von Politik und Kunst verschaffen ihm größere Publizität.


1933
März: Obwohl bedeutende Künstler die Akademie nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler verlassen, verbleibt Benn in ihr.
In den Rundfunkvorträgen "Der neue Staat und die Intellektuellen" und "Antwort an die literarischen Emigranten" verteidigt er den Nationalsozialismus, von dem er eine Wiedergeburt der deutschen Nation erhofft.
In seiner Lyrik feiert er Friedrich Nietzsche und fordert zu männlich-heroischer Größe auf.
Bekenntnis zum Expressionismus.


1935
Benn wird Sanitätsoffizier in Hannover.


1936
Zu seinem 50. Geburtstag erscheint der Band "Ausgewählte Gedichte", die von der SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" als "widernatürliche Schweinereien" attackiert werden.
In der Folgezeit seiner "Inneren Emigration" hält Benn dem "Reich der Macht" das autonome "Reich des Geistes" entgegen.


1938
Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer und Schreibverbot.
Heirat mit Herta von Wedemeyer.


1943-1945
In Landsberg/Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) läßt er illegal "Zweiundzwanzig Gedichte 1936-1943" drucken, arbeitet am Roman "Phänotyp" und den "Statischen Gedichten", in denen er das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit sowie das des Künstlers zu seinem eigenen Leben reflektiert.


1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt sich seine Frau, weil sie ohne Nachricht von Benn bleibt, das Leben. Kurz daruf kehrt er nach Berlin zurück und praktiziert wieder als Arzt.


1948
In der Schweiz erscheint die Lyriksammlung "Statische Gedichte", die seinen späten Ruhm begründet.


1949
Mit drei neuen Publikationen (Lyrik, Essays, Prosa) gerät Benn wieder in das Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit und beeinflußt mit seinem Spätwerk die deutsche Nachkriegslyrik maßgeblich.
Benn wird von den zurückkehrenden Exilschriftstellern wegen seiner Haltung im Nationalsozialismus kritisiert. Die nachfolgende Schriftstellergeneration verehrt ihn jedoch wegen seines modernen Stils.


1950
In seiner Autobiographie "Doppelleben" rechtfertigt er sein Verhalten im Nationalsozialismus.


1951
Benn erhält den Georg-Büchner-Preis.


1956
Zahlreiche Ehrungen zu seinem 70. Geburtstag.
7. Juli: Gottfried Benn stirbt in Berlin an Krebs.