inge müller

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sarah
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Beitrag von sarah »

Inge Müller tritt aus dem Schatten ihres Mannes

Ihr Grab auf dem Friedhof in Berlin Pankow verschwand unbemerkt. Ein Gedenkstein mit der Inschrift «Inge Müller 1925 - 1966», wurde zehn Jahre später errichtet und soll erinnern an «Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.» (Hamletmaschine, Heiner Müller).

Inge Müller, die Frau von Heiner Müller, hat ein beachtliches, eigenständiges literarisches Oeuvre hinterlassen. Erstmals erschienen einige ihrer Gedichte 1966, in dem Jahr, in dem einer ihrer zahllosen Selbstmordversuche gelang. Nach dem Tod von Heiner Müller scheint der Zugriff auf den Nachlass frei. So machte sich die Autorin Ines Geipel daran, einen grossen Teil der Texte: Lyrik, Prosa, Tagebuchaufzeichnungen, dramatische und erzählerische Fragmente herauszugeben – wie sich herausstellt, ein sehr ehrgeiziger Versuch. Inge Müller dem Vergessen zu entreissen, ist ein Verdienst. Seit dem Erscheinen des Materials in dem Buch «Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn» im Aufbau-Verlag, mehren sich Lesungen und theatralische Versuche in der OFF-Szene. In der Schaubühne referierte die Schriftstellerin Birgit Vanderbecke über Inge Müller in der Reihe: «Die Einen über die Anderen / Ost über West, West über Ost» und suchte Inge Müller einzuordnen auf ihrer Spurensuche bei Heine, Brecht, Georg Heym, Gottfried Benn und Heiner Müller, aber die Lyrikerin sperrt sich. Ohne Inge Müller wirklich fassen zu können, schwebten hinkende Vergleiche über Vorbilder und Selbstmordtheorien im Raum. Es wurde ihr eine beschönigte proletarische Biographie, erdichtet in der DDR, vorgeworfen und das falsch verstandene Gedicht «Europa», diesmal das Vorbild Brecht («Freiheit und Democracy») unterschlagend, angelastet. Gesagt, getan und Birgit Vanderbecke entschwand, ohne an einem Dialog mit dem Publikum interessiert zu sein. Soweit zum Thema West über Ost zu Inge Müller. Schade! Ebenso ungenutzt verebbte der Versuch, im «Theater unterm Dach» die Autorin Inge Müller zu entdecken. Zuviel Heiner Müller musste herhalten, um den Abend zu füllen. Zu lange war Inge Müllers literarisches Schaffen nur teilweise zugänglich, zu lange stand diese grossartige Lyrikerin in dem mächtigen Schatten ihres Mannes. Und nun diese missglückten Versuche der Veröffentlichung, weder das Theater kommt ohne den «grossen Mullah», wie ihn Peter Hacks einst nannte, aus, noch die Anthologie ohne viele qualitativ sehr unterschiedliche Kommentare und Analysen. Ines Geipel versucht Leben und Literatur inhaltlichen Ordnungsprinzipien zu unterwerfen. Was dabei herauskommt ist ein Vielerlei und Allerlei. Es wird bunt gemischt; ein bisschen Gedichte, ein bisschen Prosa, ein bisschen Dramenfragment und wieder ein bisschen Lyrik und Tagebuchnotizen. Glücklicherweise ist die Lyrikerin nicht «tot zu kriegen». Mit einem die Form sprengenden Blick auf die Ästhetik sind die Gedichte Inge Müllers geschrieben, stellte Heiner Müller Jahre nach ihrem Tod fest. Warum kann ihr Werk nicht frei stehen, atmen und für sich sprechen? Wie das erste, kleine Gedichtbändchen, herausgegeben 1985 von Richard Pietrass. Ines Geipel bedient sich ebenfalls all dieser Gedichte Inge Müllers, presst sie allerdings durch ihre fragwürdige Anordnungstechnik in Zusammenhänge, die nicht stimmig sind und den freien Blick verstellen. Der Herausgeberin fehlt es an Distanz zum Material und zur Autorin. Es gelingt leider nicht, Inge Müller vor dem erneuten «Verschüttetwerden» zu bewahren. «Da fand ich mich / Und band mich in ein Tuch; / Ein Knochen für Mama / Ein Knochen für Papa / Ein Knochen ins Buch.» Für Inge Müller wurde die Erkenntnis, Heiner Müller in der dramatischen Begabung nicht ebenbürtig zu sein und ihre gefühlsmässige Zerrissenheit zu einer untragbaren Bürde. Es blieben der Alkohol und die Gedichte. Auch wenn sie diese kaum jemandem zeigte, waren sie die ausgestreckten Hände «der als Säule im Unternehmen Heiner Müller eingebauten Frau». sagt Wolfgang Müller, der Bruder. Inge Müller bezahlte ihre Gedichte mit ihren Gesichtern: MASKEN / «Ich weigre mich Masken zu tragen / Mich suche ich / Ich will nicht dass ihr mich nachäfft / Ich suche unser Gesicht / Nackt und veränderlich. / Nicht Tränen nicht alle Wetter / Waschen die Larven uns ab / Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab.» Und da ist ein Mann, ihr Mann, der ihre Gedichte früher nicht verstand, lässt kleinlich ihren Namen tilgen aus den ersten gemeinsamen dramatischen Versuchen «Der Lohndrücker» und «Die Korrektur». Vielleicht war es gerade ihr Name, der die Texte bekannt machte, damals hatte er noch keinen. Inge Müllers Lyrik jedenfalls sprengt die Form genauso wie Heiner Müllers Dramatik sie sprengt. Sie sind ein Paar, das wohl ohne einander nicht zu denken wären; ohne die gegenseitig befruchtende und behindernde Arbeit bis in den Tod. Ist Inge Müllers literarisches Werk abzutrennen von ihrer Biographie? Bisher stand immer ihr tragisches und tapferes Leben, gegen das ihr Tod nichts beweist, im Vordergrund, ihre Beziehung zu Heiner Müller, die Tatsache ihres Verschüttetseins als junge Frau am Ende des Zweiten Weltkriegs und ihr Selbstmord. Ein Werk muss aber auch für sich stehen können, abgetrennt von der Biographie des Autors. Der Sammlung sind Texte beigestellt, die sehr unterschiedlicher Natur sind und nicht nebeneinandergestellt gehörten. Der verdienstvolle Adolf Endler bezeichnet Inge Müllers beunruhigende Verse «als eine Poesie kurz vor dem Absturz». Er entdeckt ihre «gestische Schreibweise», die sich des «permanenten Stilbruchs» als Kunstmittel bedient. Sein Aufsatz ist bereits Dokument, er erschien schon 1978 in der Zeitschrift «Sinn und Form» und ist es allemal Wert, wieder gedruckt zu werden. Über den Reim bei Inge Müller schreibt Gernot Böhme: «Gerade der Kinderreim enthält nicht nur besänftigende Monotonie und freundliche Entsprechung, sondern auch Verballhornung, absurde Verdrehung und Lust am bösen Spiel.» Daneben stehen leider dürftige Texte über das Verhältnis von Heiner und Inge Müller. Inge Müller, diese grossartige Frau, sollte so angenommen werden wie sie war, mit ihren Widersprüchen, ihrer tiefen Liebe und ihrer Verletztheit.

Christine Boyde

Inge Müller, «Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn», Aufbau-Verlag, 1996.
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