Argentinien

Antworten
~Fat Bat

Beitrag von ~Fat Bat »

Buenos Aires von ganz unten

Im Zuge der Recherchen für meinen Multimedia-Roman GEFANGEN (siehe http://www.da-ist-kunst.de , Kategorie Computergrafie) mußte ich im November 1998 für einige Tage nach Buenos Aires. Natürlich war ich keineswegs auf der Suche nach der schönen, heilen Welt der Touristenbibeln, die es auch fürArgentinien zuhauf gibt, jene Reiseführerromantik, die selbst äußerste Armut noch ins pittoreske Licht zu setzen versteht – auf die Realität, wie ich sie vorfand, war ich allerdings doch nicht gefaßt, dabei hatte ich nichtmals die Slums besucht...
Schon gleich auf der Fahrt vom Flughafen Ezeiza in die Innenstadt erblickte ich etliche Behausungen, die abgewrackter wirkten, als alles, was ich je in Europa oder sogar in New York gesehen habe (und ich habe früher in Obdachlosenunterkünften gearbeitet). Unter den Autobahnbrücken tauchten die ersten Elendsquartiere auf, Matrazenlager, umgeben von Kartons und Plastiktüten. Mein erster Eindruck von der City, als ich am Retiro-Bahnhof aus dem Bus stieg, waren drei herrenlose Hunde, die sich auf dem Asphalt wärmten, während ein paar Kollegen in einem Müllhaufen schnüffelten, der auf der gegenüberliegenden Seite von einem zerlumpten älteren Mann durchwühlt wurde. Gleichzeitig liefen gutgekleidete Señoras sowie bürofein gestylte Leute an mir vorbei; der Retiro-Bahnhof ist ein zentraler Knotenpunkt.
Wie ich in den folgenden Tagen feststellen sollte, wimmelte es in Buenos Aires von Armut & Obdachlosigkeit. Überall, im gesamten Stadtgebiet, ob nun auf den Prachtavenidas oder in Vierteln, die von Touristen kaum frequentiert werden, wie z.B. Parque Patrizio oder Pompeya, leben Obdachlose mit Kartons, Tüten und Obstkisten auf der Straße. Einer hatte sein Domizil sogar unter einem ausladenden Baum an der Plaza Alvear aufgeschlagen, wenige Schritte von zwei Luxuscafés mit voll besetzter Terrasse entfernt. Aus naheliegenden Gründen habe ich keines der geschilderten Notquartiere fotografiert, nur mal eines, dessen Bewohner gerade unterwegs war; es befand sich vor einem Bauzaun auf einer sehr belebten Einkaufsstraße, im Hintergrund Wahlplakate der Ära Menem:

Bild

An den Häuserecken, vor den Kirchen, in einem Spalt zwischen Gebäuden, in allen möglichen Winkeln standen BettlerInnen der unterschiedlichsten Altersstufen. Besonders der Anblick einer alten, ausgemergelten Frau hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt; sie stand in einer schmalen Ritze zwischen zwei Geschäftshäusern auf der Avenida Corrientes, die eine Hand bittend zum Sammelteller ausgestreckt, mit der anderen stützte sie sich an der Mauer ab, um nur ja nicht zu fallen. Die Passanten liefen achtlos an ihr vorüber.
Abends durchstreiften Mütter mit schlafenden Babies auf dem Arm die Lokale in der Hoffnung, ein paar Centavos zu bekommen. Selbstverständlich kann man darüber streiten, ob es richtig ist, Kinder mit auf Betteltour zu nehmen – Tatsache bleibt jedoch allemal, daß die Not schon sehr groß sein muß, bevor jemand so etwas tut.
Nicht gar so dreckig, aber dennoch alles andere als gut, ergeht es jenen Frauen, die mit einzelnen Früchten – einer Ananas, vier Bananen, zwei Äpfeln, usw. – auf dem Bürgersteig vor den goldlackierten Laternen auf der feudalen Avenida Alvear hocken und, meist erfolglos, versuchen, das Obst zu verkaufen. Auch hiervon habe ich kein Foto gemacht; statt dessen gebe ich in einer Computergrafie wenigstens einen visuellen Eindruck des Flairs wieder, das auf der Avenida Alvear herrscht:

Bild

Ebenso unlukrativ wie der Obsthandel dürfte sein, was ich in den Grünanlagen bzw. Parks beobachtet habe: junge Männer hatten sich Styroporbehälter von der Größe einer Reisetasche umgehängt, eine Art Kühlbox, um daraus Getränkedosen feilzubieten. Am Spätnachmittag pflegten diese dann in lauwarmem Wasser zu schwimmen, was die Absatzchancen wohl kaum erhöht haben dürfte. In der Hauptsache hatten die Limonadenverkäufer also zu schleppen.
Andere wiederum standen mit gauchomäßig aufgeputzten Ponies stundenlang in der Gluthitze, so zum Beispiel am Retiro-Bahnhof oder vor dem Parque Palermo und warteten auf reitlustige Kundschaft. Nur habe ich– obwohl ich die Szenerie lange beobachtete – nie jemanden reiten sehen. Eine Quälerei für Mensch und Tier.
Um mal eine Vorstellung der Hitze zu geben, folgt hier eine weitere Computergrafie:

Bild

Und dann die StraßenhändlerInnen mit ihren provisorisch aus Tapeziertischen errichteten Ständen, auf denen sie Billigstartikel wie Badewannenstöpsel, Einwegfeuerzeuge oder vergleichbare Waren an die Passanten zu verkaufen suchten... Dabei waren die mit den Ständen noch die Glücklicheren jener Zunft. Eine junge Frau saß zum Beispiel auf dem Pflaster einer Verkehrsinsel inmitten der stark befahrenen Avenida Santa Fé, gleich unter der Fußgängerampel; sie betätigte unaufhörlich den Abzug einer bunten Plastikpistole, zwischendurch blies sie immer wieder einen Luftballon auf – vergeblich, die Leute achteten nur auf Rot oder Grün. Keiner war gewillt, auch nur einen Peso in das Spielzeug zu investieren...
Von Leuten, die sich als Hausmädchen (noch ganz traditionell in hellblauer bzw. brauner Kittel-Uniform), Schuhputzer und Hundeausführer verdingen, will ich gar nicht erst reden. Letztere wirkten mit ihren Hechelbündeln von ca. 8-12 Tieren an einer Sammelleine sogar recht zufrieden. Allerdings dürfte es inzwischen nicht mehr so leicht sein, einen solchen Job zu ergattern, denn die Kommune hat gesetzlich spezielle Prüfungen für Hundeausführer verankert.
Nun noch kurz zu dem Unterschied zwischen Touristenklischhes und der Realität: in den Reiseführern wird z.B. der Stadtteil La Boca reglmäßig durch Fotos von leuchtend bunt gestrichenen Wellblechhäusern repräsentiert. Diese Häuser gibt es wirklich – an einer Straßenecke, wo sich Reisebusse en masse versammeln und grelle Bildchen verkauft werden, ähnlich wie sie auch auf dem Montmartre in Paris zu finden sind. Gleich dahinter liegt eine Remmidemmi-Amüsierstraße. Der Rest von La Boca sieht ungefähr so aus:

Bild

Na ja, an manchen Stellen auch ein wenig besser, aber mit der geschilderten Kitsch-Corner hat das Viertel soviel zu tun wie ein Sandkasten mit der Wüste.
Nach meiner Rückkehr habe ich diverse Reiseführer-Verlage angeschrieben, die Realität geschildert und darum gebeten, nicht immer nur die Aspekte des Nehmens (Sehenswürdigkeiten, Hotels, Restaurants, Shopping) ausführlich darzulegen, sondern auch auf die des Gebens hinzuweisen, etwa auf die aktuelle soziale Situation des Gastlandes, verbunden mit einen Adressteil von Selbsthilfeinitiativen für Obdachlose, Frauen, etc. oder – falls es solche nicht gibt – wenigstens Organisationen zu benennen, die Reisende durch einen Obolus oder sonstiges Engagement ein wenig unterstützen können. Tourismus, so wird es in den Führern ja immer wieder betont, diene schließlich auch der Völkerverständigung – und davon wiederum sei internationale Solidarität doch ganz sicher ein wesentlicher Teil. Daraufhin erhielt ich von den Verlagen zwar sehr höfliche und verständnisvolle Antwortschreiben, in ihren Büchern jedoch hat sich bis heute nichts geändert. Da herrscht nach wie vor die heile Welt. Gnadenlos.

Christine Grüter alias FAT BAT
Antworten