Also das war voll krass, dieser Aufenthalt in Germania!!! Sorry,aber anders kann ich jene Stadt, in der ich unterwegs war, leider nicht mehr nennen - der Grund wird aus meiner Schilderung ersichtlich. Ich bin zwar nun schon seit einer Woche wieder in Emden, aber diese Woche brauchte ich auch, um mich einigermaßen zu erholen (mit dem Sortieren des fotografischen Materials, das ich mitgebracht habe, habe ich noch gar nicht angefangen).
Es ging schon gleich übel los: ausgerechnet am 28. Mai wurde der neue Hauptbahnhof von Germania eingeweiht, ausgerechnet am 28. Mai, halbwegs in der Nacht, kam auch ich an. Der Hbf ist eine größenwahnsinnige Konstruktion aus Stahl & Glas mit diversen Ebenen, Rolltreppen und rundum verglasten Aufzügen - der perfekte Alptraum für Leute mit Gleichgewichtsstörungen, Höhenangst und dergleichen. Aber okay, das brachte mich immerhin auf die Idee, nicht nur Stadtteilfotografie zu machen, sondern mich auch auf einer Art Survival-Trip zu begleiten, will heißen, mich selbst zu filmen, wo ich im Alltag unverhofft auf nahezu unüberwindbare Hindernisse treffen würde. Davon sollte ich in Germania genug finden...
Gleich am nächsten Vormittag wollte ich zu einer Anhörung wegen der beabsichtigten Verschärfungen des Sozialrechts in den Bundestag. Vor dem Reichtagsgebäude gab es eine Riesenschlange; ich wunderte mich zwar, wieviele - und vor allem was für merkwürdige (kurze Hosen, mit Freßpaketen ausstaffiert, etc.) - Leute zu dieser Anhörung wollten, war jedoch dusselig genug, mich brav an den Hintern der Schlange zu stellen. Allerdings ging es derart langsam voran, da ich nach ca. einer halben Stunde doch stutzig wurde, die Anhörung sollte nämlich gleich beginnen; also kriegte ich irgendwann die Schnüß auf und fragte die Umstehenden nach der Anhörung. Und was stellte sich heraus? Die ganze Schlange wollte da überhaupt nicht hin, die warteten alle auf Einlaß in die große Glaskuppel über dem Plenarsaal! Das wäre was geworden, wenn auch ich versehentlich dort gelandet wäre, nämlich der Höhenhorror in höchster Potenz... Ich machte, daß ich wegkam und begehrte kackdreist bei einem Seiteneigang Einlaß, was auch klappte (die Personenkontrolle erinnerte mich freilich an meine Zeiten bei der Bewährungshilfe, wenn ich Besuche in einem Knast der Sicherheitsstufe Eins machte). Die Anhörung selbst war ätzend: ausgerechnet die gepflegtesten Damen und Herren, jene, die auf mich den Eindruck machten, daß sie nie auch nur annähernd mit sowas wie materieller Not je konfrontiert waren, sprachen sich für die rigidesten und entwürdigendsten Kontrollmaßnahmen gegen Alg II-EmpfängerInnen aus; wir auf den billigen Plätzen (die Zuhörerschaft, Attacies, ver.di-Leute, Grundeinkommensbefürworter und all so'n "Kroppzeug") hatten natürlich keinerlei Mitspracherecht, wir konnten nur lauschen und staunen über soviel Ignoranz, Haß oder Hysterie. Immerhin nahmen an jener Anhörung aber auch zwei Personen mit Migrationshintergrund aktiv teil: ein Schwarzer und eine Asiatin - sie versorgten alle Anwesenden mit Kaffee und belegten Brötchen!
Wie ich nach Verlassen des Bundestages feststellen sollte, war ganz Germania auf die Fußball-WM eingestellt. Die Welt zu Gast bei Freunden... Überall hing diese Parole; sie dürfte aber nur für "Undeutsche" mit gut gefülltem Portemonnaie und einer korrekten Staatsbürgerschaft gelten. Im Internet wurden Dunkelhäutige schon vor gewissen Problembezirken mit neonazistischen Umtrieben gewarnt, vor sogenannten no-go-areas, und überhaupt dürfte es mit der weltweiten Freundschaft rasch vorbei sein, sollte nicht gerade ein beim besten Willen nicht von der Hand zu weisender Asylgrund vorliegen. Am Brandenburger Tor gab's einen riesigen begehbaren Fußball, nur noch die Quadriga guckte drüber weg; ich fotografierte diese Szenerie und taufte sie Ballerburger Tor (Ballerburg ist ein gehässiger Ausdruck für Psychiatrie). Weiter zum Protzdamer Platz. Wo Anfang der 90er eine Riesenbaustelle war, stehen jetzt Glas- & Stahlpaläste, die heiligen Hallen des Kommerz. Ach ja, unterwegs kam ich noch an einem PortaLoo vorbei, einem dieser blauen Klohäuschen, im Hintergrund war das Reichtagsgebäude zu sehen - noch 'n nettes Bildchen. Irgendwo in einer Cafeteria, ich hatte inzwischen Heißhunger, wollte ich was zu essen einwerfen; erst als ich bereits den größten Teil meiner Portion verschlungen hatte, bemerkte ich, was die Servierdamen trugen: Schürzen in Schwarz-Rot-Gold! Da wäre mir doch beinahe alles wieder aus dem Gesicht gefallen, aber egal, ich esse eh am liebsten indisch und schlug mir in den nächsten Tagen den Bauch entsprechend voll. Schwarz soll bei mir nur der Humor, Rot die Gesinnung und Gold allenfalls der Ring an meiner Pfote sein. Das war aber nicht der einzige Teutonenkitsch, den ich erblickte; die ganze Stadt ist voll davon, dazu überall einschlägige Fahnen und mancherlei Plakat, das tat, als sei den Deutschen der Pokal bereits sicher...
Die Straße des 17. Juni, normalerweise stark befahren, war und bleibt wegen der WM auf dem Abschnitt vom Ballerburger Tor bis zur Goldelse gesperrt. Keine Ahnung, was die da veranstalten wollen, jedenfalls wirkte die Leere geradezu surreal, Speers Prachtallee (es sollte eine der Achsen werden, die auf die geplante, aber von den Alliierten glücklicherweise verhinderte Riesenkuppel zu führt) und keiner drauf. Dadurch wurden die irrwitzigen Dimensionen, in denen das alles angelegt war, umso deutlicher. Da ich gerade bei Speer bin, seine klobigen Leuchten stehen noch und unbegreiflicherweise unter Denkmalschutz. Die Architektur der Macht, klotzig & einschüchternd. Sie begegnete mir auch bei einem Besuch des Flughafens Tempelhof, noch so ein Fascho-Bau, der dann jedoch im Zuge der Luftbrücke wenigstens seine positive Verwendung fand. Heute ist es ein lärmloser Flughafen, nahezu gespentisch, denn ich war ca. drei Stunden auf dem Gelände und habe weder Flugzeuge noch Menschen gesehen (nur einige wenige Passanten).Nein, ich glaube, die Fascho-Bauten haben ausgedient; die Musik spielt jetzt woanders - doch die Architektur der Einschüchterung ist keineswegs verschwunden. Sie zeigt sich heute in den vorhin schon erwähnten Stahl- & Glasbauten, deren gigantischen Dimensionen und vor allem deren Verwendungszweck: Banken, Büros, Business... Selbst das traditionsreiche Cafe Kranzler, früher ein markanter Punkt des Ku'damms wirkt nun absolut unscheinbar, weil sich nämlich gleich dahinter ein riesiger Glasbau mit der Aufschrift Fitness-Center auftürmt. Das sind die heutigen Kathedralen der Macht; sie wirken umso monströser, wenn man bedenkt, daß jeder sechste Haushalt in dieser Stadt von Sozialtransfers lebt. Kurzum, in Germania gibt es ein Zentrum, in dem ballen sich Macht und Wirtschaft, da wird unwahrscheinlich viel Geld hineingepumpt, da wird nur von einer bestimmten Schicht für eine bestimmte Schicht geplant. Alles andere wird in die unterschiedlichen Stadtteile abgedrängt. Keine andere Stadt - und ich habe etliche Megastädte live erlebt - macht solch einen geballten und zugleich zerfaserten Eindruck auf mich wie eben dieses Germania. Und keine hat mich je so fertig gemacht; es ist wie in diesem alten Song von Cole Porter: "Nichts haut mich um, aber du..."
FAT BAT alias Christine Grüter
...und hier ein paar böse Bildchen:
Ballerburger Tor
Doitschkitsch
Goldelse
Kranzler
Protzdamer Platz
Regierungssitz
Siegestöle
Wirtschaftswunder
![Bild](http://www.kirsch-gestaltung.de/bilder/Wirtschaftswunder.jpg)