Eine heilige Familie
Von Kai Engelke
An einem sonnigen Vorweihnachtstag, Anfang Dezember vor ein paar Jahren, das Thermometer zeigte vierzehn Grad Celsius, die Vögel zwitscherten, und auf der Terrasse blühten die Rosen – hatten wir die Schnauze voll. Ein für alle mal! Es reichte! Meine Frau und ich riefen den Familienrat zusammen, um gemeinsam über die zukünftige Gestaltung der Weihnachtszeit zu beraten.
„Die Adventszeit ist ja überhaupt nicht mehr die besinnliche, im Gegenteil, sie ist zur lautesten Zeit des Jahres verkommen. Nur Hektik und Stress, wohin man sieht“, eröffnete meine Frau die Diskussionsrunde. Ihr Gesichtsausdruck signalisierte Müdigkeit und Resignation.
„Von wegen Fest der Liebe! Weihnachten ist das Fest des marktgesteuerten Konsums. Der Kapitalismus lebt!“, pflichtete mein ältester Sohn ihr bei.
„Fangt bloß nicht wieder davon an, dass früher sowieso alles besser war!“, warnte meine Tochter. In ihrer Stimme schwang ein drohender Unterton mit.
„The times, they are a-changing!“, zitierte mein zweitältester Sohn Altmeister Bob Dylan, ohne von seinem Handy-Prospekt aufzusehen.
„Ja, genau!“, sagte ich und setzte noch eins drauf: „Tempora mutantur!“ Ein lateinisches Zitat in einer kontroversen Diskussionsrunde macht sich immer gut. Das heißt, so kontrovers war unser Gespräch ja gar nicht. Wir waren uns immerhin einig, dass etwas Entscheidendes geschehen musste. So konnte es nicht weitergehen. Wir alle hatten schließlich die Schnauze voll. Gestrichen voll!
„Und was sagst du?“, fragte ich unsern Jüngsten, der hoch konzentriert Dinosaurierbilder sortierte. Seine Antwort kleidete er in einen weihnachtlichen Zweizeiler: „Stille Nacht, geile Nacht, Geschenke werden bald gebracht.“
„Von wem hat das Kind das nur?“, fragte meine Frau, wobei sie sorgenvoll ihren Kopf schüttelte.
„Egal!“, sagte ich. „Eines ist gewiss, die Zeit des Handelns ist nun gekommen. Ich schlage daher vor, das Weihnachtsfest mit sofortiger Wirkung und für alle Zeit abzuschaffen.“
Die Familie quittierte meinen Vorschlag zunächst mit eisigem Schweigen. Doch bald darauf prasselte ein Wortgewitter auf mich hernieder, wie ich es in seiner Heftigkeit kaum jemals für möglich gehalten hätte. Alle redeten gleichzeitig. Ich konnte zwar kaum ein Wort verstehen, doch dass ich nun der Blödmann der Familie war, das war mehr als deutlich herauszuhören. Beschwichtigend hob ich die Arme und rief immer wieder: „War doch nur ein Vorschlag, Leute, eine Diskussionsgrundlage, nichts weiter! Man kann doch über alles reden! Wir können es ja auch ganz anders machen!“
Endlich kehrte wieder Ruhe ein.
„Okay, okay“, sagte ich. „Also ein zweiter Versuch. Was hieltet ihr davon, das Weihnachtsfest völlig umzugestalten? Wir machen einfach alles anders als bisher. Wir verpassen dem Fest sozusagen ein neues Outfit, eine völlig neue Struktur.“
„Hört sich schon besser an“, sagte mein Ältester. „Wie stellst du dir das denn vor?“
„Na ja“, überlegte ich laut, „statt Stille Nacht, heilige Nacht hören wir ab jetzt Spiel mir das Lied vom Tod und statt Ihr Kinderlein kommet singen wir gemeinsam Marmor Stein und Eisen bricht.“
„Heiß“, sagte meine Frau.
„Cool“, sagte meine Tochter.
„Aber was ist mit den Geschenken?“, fragten sie beide im Chor. Auch für dieses leidige Problem musste sich eine Lösung finden lassen. Die Überlegung meines Drittältesten, dass jeder einem weiteren Familienmitglied das schenkt, was er sich selbst am sehnlichsten wünscht, fand keine Mehrheit. Demnach hätte ich meiner Frau ein Motorrad und sie mir einen Aufenthalt in einer Wellness-Farm im sonnigen Süden schenken müssen. Nee, das konnte es auch nicht sein.
Mein Zweitältester meinte irgendwann wie beiläufig: „Und was hieltet ihr davon, einfach auf Geschenke zu verzichten?“
Wahrscheinlich hatte keiner so richtig zugehört oder wir wollten die Sache einfach nur möglichst rasch vom Tisch haben, jedenfalls wurde dieser Vorschlag einstimmig angenommen. Gesprächsweise entwickelten wir einen nach Alter gestaffelten Geschenkverzichtsplan. Sieger dieses familieninternen Wettbewerbs sollte jeweils derjenige sein, der auf das kostspieligste Geschenk verzichtete.
Was machten die für Augen, als ich auf meine Harley-Davidson verzichtete und so im ersten Jahr locker den ersten Preis abräumte.
Im darauf folgenden Jahr trickste meine Frau uns alle aus. Listig verzichtete sie auf eine Weltreise und stand so als überlegene Siegerin da.
Ihr Vorschlag, die balinesische Holzkatze jährlich zur Weihnachtszeit mit Figürchen aus Überraschungseiern zu schmücken, um auf diese Weise die herkömmliche Fichte zu ersetzen, fand begeisterte Zustimmung.
Zu Weihnachten lese ich der versammelten Familie gerne vor. Der Hund von Baskerville erwies sich im Laufe der Zeit als geeigneter Text für diesen Zweck.
Auf ein Krippenspiel wollen wir natürlich auch nicht verzichten. Immer am ersten Weihnachtsfeiertag führen wir unsere Version von Einer flog übers Kuckucksnest auf. Was ist das jedesmal für ein Spaß! Und Weihnachten soll ja auch das Fest der Freude sein.
Die Nachbarn hielten uns zuerst für völlig durchgeknallt. Doch das änderte sich innerhalb kürzester Zeit. Zuerst waren es die Frielings, die uns kopierten, dann die Fischers von gegenüber und bald darauf auch die Gretel-Tiefenbergers von Nummer 12. Inzwischen feiern nicht nur sämtliche Nachbarn wie wir. Die ganze Stadt, ja, schon ein großer Teil der Region hat unsere weihnachtlichen Umstrukturierungen übernommen und teilweise sogar weiter entwickelt. Es ist abzusehen, dass in Kürze die gesamte Nation das Weihnachtsfest nach unserem Vorbild praktizieren wird. An eine europa-, ja, weltweite Ausdehnung unserer Sitten und Gebräuche kann man mit Fug und Recht schon jetzt denken.
Vor ein paar Tagen ereilte uns jedoch ein herber Rückschlag. Sofort, als ich von der Arbeit nach Hause kam – ich hatte einen Vortrag über moderne Arten weihnachtlicher Riten gehalten - nahm mich meine Frau still beiseite, um mir etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches zu zeigen. Sie führte mich nach oben, in das Zimmer unseres Jüngsten. Schon auf der Treppe krochen mir diese Klänge in die Gehörgänge: Oh du fröhliche, oh du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit...Unser Jüngster hockte mit verzücktem Gesichtsausdruck auf seinem Bett und betrachtete eine kleine, mit Lametta und bunten Glaskugeln behängte Fichte. Meine Frau und ich waren sprach- und ratlos. Von wem hatte der Junge das nur? Irgendetwas mussten wir falsch gemacht haben.
http://www.kaiengelke.de